Unterwegs: Der Obusbetrieb und Omnibusse in Tallinn (Estland)


von Klaus Schameitat

(Neubearbeitung im August 2006)

Estland ist die nördlichste, kleinste und am weitesten entwickelte der drei baltischen Republiken, die sich erst 1991 aus der Sowjetunion lösen konnten und nun seit Mai 2004 EU-Mitglieder sind. Die Staatsfläche ist ungefähr so groß wie das deutsche Bundesland Niedersachsen. Mit nur 1,35 Mio. Einwohnern (davon fast 400.000 Russen) rangiert Estland an viertletzter Stelle in der EU vor Zypern, Luxemburg und Malta.

zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken Estlands Hauptstadt Tallinn zählt heute 385.000 Einwohner, etwa so viele wie Wuppertal. Es ist die kleinste unter den Ostseemetropolen. Als einzige Großstadt Estlands besitzt Tallinn auch den einzigen Straßenbahn- und Obusbetrieb des Landes. Eine U-Bahn existiert nirgendwo im Baltikum (in Riga/Lettland war zu Sowjetzeiten eine geplant, die aber auf heftigen Widerstand in der Bevölkerung stieß). Tallinn mit seiner großartigen historischen Altstadt zieht von Jahr zu Jahr mehr Touristen an, die insbesondere vom nur 80 Kilometer entfernten Helsinki per Schiff anreisen. Neuerdings gibt es auch attraktive Billigflug-Verbindungen (z.B. ab Berlin).

Der O-Bus-Betrieb in Tallinn
zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken Der Betrieb der fünf Straßenbahn- und acht Obuslinien in der Hauptstadt Tallinn obliegt der Aktiengesellschaft TTTK („Tallinna Trammi- ja Trollibussikoondis“). Obusse verkehren hier seit 1965, als der Betrieb mit insgesamt neun sowjetischen ZIU-5 in zweitüriger Ausführung begann. Bei den folgenden Netzerweiterungen wurden dann, wie überall im Baltikum, nur noch Škoda-Obusse angeschafft. Ingesamt fanden zwischen 1966 und 1983 zunächst 210 Škoda 9Tr den Weg nach Tallinn: zuerst Zweitürer, später Dreitürer. Sie erhielten fortlaufende Wagennummern von 10 bis 209 nebst einigen Zweitbesetzungen (1“ bis 9“ und 24“). Davon verkehrten im Zeitraum 1981 bsi 1984 sogar 60 Stück als 30 Zweiergespanne (vgl. dazu Meldung im Nachrichtenarchiv unter „Ukraine“ vom 01.07.2004). Bis 1989 wurden noch 99 Škoda 14Tr mit Wagennummern von 210 bis 308 in Betrieb genommen. Im Laufe der Zeit gelangten überdies einige Exoten und Kleinserien in den Wagenpark. Unter der Nummer 309 findet man seit 1999 ein Einzelexemplar Ikarus 415 T (Prototyp 1992) in ungewöhnlichem Lila-Farbton; vorangegangen waren jahrelange Testeinsätze des Wagens in Budapest, Debrecen, Bratislava und Moskau. Als Nummer 310 bis 314 fahren insgesamt fünf Ikarus/Ganz 412 T Niederflur-Obusse vom Baujahr 1999. Offenbar als Beginn einer neuen Ära wurden danach jedoch zehn polnische Solaris/Ganz Trollino 12 beschafft (2002) und seither noch acht weitere (2004). Ihre Nummern sind 315 bis 332. Sie gehören zu den ersten ausgelieferten Exemplaren dieses neuen Modells.

zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken Auch Gelenk-Obusse sind vorhanden: Insgesamt 25 Škoda 15Tr (Baujahr1989/90) in der Nummernreihe 400 bis 424. Als Wagen 425 wurde ein einzelner ukrainischer JuMZ T-1 (ex Probewagen, Baujahr 1994) geführt, der sich offenbar nicht sonderlich bewährte und bereits 2001 ausrangiert wurde. Außerdem sechs Ikarus 280 T mit den Nummern 426 bis 431, die 1989 zunächst in Hoyerswerda/DDR neu in Verkehr gekommen waren und nach der baldigen Betriebsstilllegung 1995 nach Tallinn gelangten (die anderen sechs von insgesamt 12 aus Hoyerswerda kamen zusammen mit gleichartigen Fahrzeugen aus Eberswalde nach Tscheljabinsk/Russland). Seit 2003 fahren nun auch fünf Solaris/Ganz Trollino 18 unter den Nummern 432 bis 436 im Tallinner Netz. Es werden nicht die letzten sein! Im Frühjahr 2006 absolvierte ein Probeexemplar des neuen Trollino 18-Modells bereits Testfahrten in Tallinn. Ein Investitionsplan sieht die Beschaffung von insgesamt 50 neuen Obussen im Zeitraum 2004 bis 2010 vor. Im Jahr 2005 und bisher in 2006 erfolgten keine Neuzugänge. Konkrete Bestellungen scheint es zurzeit auch noch nicht zu geben. Als mittelgroßer Obusbetrieb weist Tallinn bis zum heutigen Tage jedenfalls eine beachtliche Typenvielfalt auf.

zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken Während die letzten 9Tr im Jahre 2000 endgültig aus dem Tallinner Straßenbild verschwanden, sind von der 14Tr-Flotte gegenwärtig sicherlich rund zwei Drittel, vom 15Tr-Bestand alle Fahrzeuge (mit Ausnahme des 1995 ausgebrannten Wagens 408) im Einsatz; sämtliche Fabrikate zusammengerechnet maximal 120 Stück. Ob von den 9Tr-Obussen der Wagen 203, der im Jahr 2000 im modernen TTTK-Design daherkam, als Museumsstück erhalten blieb, ließ sich nicht klären. Viele 9Tr und einige der ältesten 14Tr sind nach Litauen verkauft worden und gelangten in den beiden Betrieben Vilnius und Kaunas nochmals zum Einsatz. Der älteste noch in Tallinn verkehrende 14Tr war im Sommer 2006 der Wagen 213.

zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken Der werksseitig übliche rot-beigefarbene Einheitslack der Škoda-Obusse und Tatra-Straßenbahnen wich ab 1995 (evtl. früher) sukzessiv einem gefälligeren Design in weiß-hellblau mit großem TTTK-Emblem. Damit verschwanden auch die damals neu eingeführten Reklameaufschriften wieder weitestgehend. Erst in letzter Zeit wird der Obus als Werbeträger neu entdeckt. Die Straßenbahnen tragen heute in größerem Umfang Reklame, auch ganzflächig. Einige ältere Obusse bekamen im Jubiläumsjahr 2000 die unauffällige Beschriftung „35 aastat puhta elukeskkonna nimel“ (zu deutsch: „35 Jahre im Namen einer sauberen Umwelt“ - dazu sei allerdings angemerkt, dass das rohstoffarme Land seine Elektroenergie mit einer überalterten Sowjet-Technologie aus Ölschiefer gewinnt, was 150 Kilometer östlich der Hauptstadt alptraumartige Umweltzerstörungen verursacht hat!).

zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken Die modernen Solaris-Obusse wurden teilweise mit einem großen Aufkleber zum 40-jährigen Obusjubiläum in Tallinn (1965-2005) versehen sowie dem Schriftzug „keskkonnasöbralik“ (d.h.: umweltfreundlich). Der äußere Zustand aller Fahrzeuge und Anlagen ist bemerkenswert gut im Vergleich zu anderen Ländern Osteuropas, wenngleich man den Škoda-Obussen inzwischen ihr Alter deutlich ansieht. Tickets kann man schon seit fast fünf Jahren sogar per SMS mit dem Handy erwerben. Im Übrigen kostet eine Einzelfahrt im Vorverkauf einheitlich 10 estnische Kronen (EEK), umgerechnet 60 Euro-Cent; beim Fahrer 50 Prozent Aufschlag. Die insgesamt acht Obuslinien (Nr. 1-7 und 9) erschließen mit 68 Kilometern Netzlänge das westliche Stadtgebiet zwischen dem Hafenviertel Kopli und der kreisrund angelegten Trabantenstadt Väike-Öismäe. Dabei tangieren sie die historische Altstadt. Größere Verkehrsknoten mit dichter Wagenfolge sind dabei der Hauptbahnhof (Balti jaam) an der „Rückseite“ der Altstadt und der Freiheitsplatz (Vabaduse väljak). An den Endstationen stehen meist etliche Fahrzeuge (besonders Keskuse, Mustamäe und Väike Öismäe). Auf Estnisch heißt der Obus übrigens einfach „troll“.

1 - 9ZIU 5Bj. 1965abgestellt 1970-73
1 - 209Škoda 9TrBj. 1966-83abgestellt bis 2000, teilw. > Litauen
210 - 308Škoda 14TrBj. 1982-89teilw. abgestellt, 10 St. > Litauen
309Ikarus 415 TBj. 1992Prototyp; vorhanden seit 1999
310 - 314Ikarus 412 TBj. 1999alle in Betrieb
315 - 324Solaris Trollino 12Bj. 2002alle in Betrieb
325 - 332Solaris Trollino 12Bj. 2004alle in Betrieb
 
400 - 424Škoda 15 Tr Bj. 1989/90in Betrieb; Wg. 408 ausgebrannt 1995
425JuMZ T-1Bj. 1994abgestellt 2001
426 - 431Ikarus 280 TBj. 1989ex Hoyerswerda; vorhanden 1995-2004
432 - 436Solaris Trollino 18Bj. 2003alle in Betrieb

Städtischer Omnibusverkehr
zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken Der innerstädtische Omnibusverkehr liegt in der Regie der Aktiengesellschaft TAK („Tallinna Autobussikoondis“). Nach Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit wurden in den 1990er Jahren die typischen Ikarus-Busse zunächst durch eine große Palette gebraucht erworbener Fahrzeugtypen aus den skandinavischen Ländern ersetzt. Fast alle erhielten in Tallinn die TAK-übliche Lackierung (siehe unten). Erst seit etwa zwei bis drei Jahren sind Neuanschaffungen in größeren Serien erfolgt, wobei es sich wiederum nur um skandinavische Fabrikate handelt: Volvo und Scania, zunehmend in Niederflurbauweise. Auch im Lande selbst werden Scania-Busse in Lizenz produziert durch „AS Baltscan“ in Tartu. Bemerkenswert ist die Pionierleistung der Tallinner Verkehrsbetriebe bei der Wiedereinführung von Omnibusanhängern zur Personenbeförderung, die seit den 1960er Jahren fast überall verboten waren (außer in der Schweiz). Auf der stark frequentierten Buslinie 60 vom Stadtzentrum in die Hochhaussiedlung Lasnamäe (östlicher Stadtrand) sind 20 solche Anhängerzüge aus einheimischer Produktion seit Ende 1999 im täglichen Einsatz. Ein Bus-Anhänger-Gespann dieser Art war anfangs auch schon zu Probezwecken in Oberhausen auf Linie.

zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken Alle Busse der TAK sind weiß mit dunkelgrünem Dach und mittelgrüner Schürze. Es gibt nur wenige Reklameaufschriften. Deutsche Linienbusmodelle, ob gebraucht oder neu, sind in Tallinn und auch in den anderen estnischen Stadtverkehrsbetrieben Raritäten geblieben. Lediglich bei den regionalen bzw. Überlandbetrieben entdeckt man in Ausnahmefällen ältere deutsche Modelle: ein einzelner Mercedes-Benz O 307 (bei Viljandi) und ein O 405 G (im Stadtverkehr von Tartu) wurden gesichtet, außerdem zwei O 305 (ex Mönchengladbach 110 und 112; in Kohtla-Järve) sowie ein MAN NL 202 mit schwedischer Aufschrift (in Tallinn) und ein MAN SL der ersten Generation mit luxemburgischer Herkunft (bei Paide). Einige EvoBus MB O 345 (Conecto) aus der türkischen Produktionslinie verkehren zum Tallinner Flughafen. Damit zeigt Estland auch im ÖPNV-Bereich seine klare Ausrichtung nach Skandinavien, während z. B. in der lettischen Hauptstadt Riga neben der polnischen Marke Solaris eine große Flotte EvoBus MB O 530 (Citaro) und O 345 in 12-, 15- und 18 Meter-Version verkehrt.

Regionalverkehr rund um Tallinn
zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken Den Busverkehr im angrenzenden Landkreis Harjumaa betreibt die Regionalgesellschaft „Harjumaa Liinid“ mit Terminal neben dem Tallinner Hauptbahnhof. Überregionale Verbindungen der Firmen „SEBE“ und „Taisto“, quer durch Estland sowie in Nachbarländer, starten hingegen vom Bushof an der Lastekodu-Straße am Ostrand der City. Wenngleich immer noch überwiegend gebraucht erworbene Reisebusse zum Einsatz kommen, so ist doch in den letzten Jahren eine spürbare Modernisierung erfolgt. Die maximale Einsatzdauer der einstigen Ostblockfahrzeuge (Ikarus, LAZ u.a.) war einfach überschritten. Tief in der Provinz konnte man allerdings bis etwa 2002/03 noch kuriosen Sowjetmodellen in den unmöglichsten Farbkombinationen begegnen.

zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken zum Vergrößern bitte klicken Im Raum Tallinn gibt es außerdem noch eine Art elektrische Regionalbahn sowjetischen Typs, die „Elektriraudtee“ (raudtee = Eisenbahn!). Sie verkehrt ein- bis zweimal stündlich bis Aegviidu im Osten und bis Paldiski bzw. zum Strand von Kloogaranna im Westen. Alle anderen Eisenbahnstrecken im gesamten Land (insgesamt unter 1000 Kilometer) sind nicht elektrifiziert. Sämtliche Strecken beginnen in Tallinn. Mit teilweise nur zwei oder drei Bummelzügen pro Tag spielen diese Verbindungen für den Personenverkehr keine große Rolle. Stilllegungen sind bereits erfolgt; selbst die Direktverbindung von Tallinn nach Riga wird nicht befahren. Der Straßenverkehr per Bus läuft heutzutage wesentlich zügiger und komfortabler. Nicht zuletzt ist festzustellen, dass der Individualverkehr in Estland rapide zugenommen hat.


zum Vergrößern bitte klicken Alle in diesem Artikel abgebildeten Fotos wurden von Klaus Schameitat in den Jahren 1995, 1997, 1998, 1999, 2001, 2003, 2004, 2005 und 2006 (jeweils Juli/August) aufgenommen.

Detaillierte landeskundliche Reiseinformationen bietet das Buch „Estland entdecken“ (464 Seiten) aus dem Trescher-Verlag Berlin, verfasst vom Autor des vorliegenden Artikels (www.trescherverlag.de).


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